Frau sein – von Mut, Angst und Leichtigkeit
Es war im Jahr 2008, ich war 24 Jahre alt und hatte mein erstes Gespräch betreffend Gehaltserhöhung. Ich stellte die Frage, warum der Mann, der vor mir diese Position hatte, viel mehr als ich verdiente. Die Antwort des Geschäftsführers war: „Weil er irgendwann einmal eine Familie erhalten muss.“
Die darauffolgenden Jahre lernte ich in der Privatwirtschaft männerdominierte Führungsebenen und Welten kennen. Ich war bemüht, mein Wissen, meinen Ehrgeiz und meine Kompetenz unter Beweis zu stellen. Es funktionierte. Egal in welchem Unternehmen ich arbeitete, ich gab alles und wurde mit Vertrauen und Anerkennung belohnt. „Mann“ übergab mir mehr und mehr Verantwortung. Ich war stolz darauf. Selbstbewusst. Mutig. Nichts konnte mich aufhalten. Ich wusste, wenn ich will, kann ich alles erreichen.
2018 saß ich mit drei Männern und meinem Anwalt am Tisch, um den Kaufvertrag für meine Wohnung zu unterzeichnen. Ich wagte diesen Schritt alleine. Ich klopfte mir selbst auf die Schulter, war glücklich und neugierig auf diese neue Herausforderung. Alles war leicht. In diese Wohnung zog fünf Monate später mein damaliger Freund ein. Zwei weitere Monate später wurde er handgreiflich, kurz bevor er auszog.
Was war geschehen? Ich verstand es nicht, zerbrach innerlich. Am Ende des Tages unterlag ich dem Patriarchat im privaten Lebensbereich. Ich stellte mich selbst in Frage, weil ich nicht standgehalten hatte, nicht stark genug war, es nicht früher erkannte. Zwei Wochen lang funktionierte ich einfach nur. Die ersten Prüfungen des berufsbegleitenden Studiums galt es zu bestehen. Ein Job war zu erfüllen, um den Kredit abzubezahlen und mein Leben zu finanzieren. Zwei Wochen später betrat ich wieder meine Yogamatte, atmete, drei Atemzüge lang, spürte meinen Körper wieder und brach in Tränen aus. Ich, die immer furchtlos, lebensfroh und tatkräftig war, fand mich plötzlich in der Statistik „Gewalt an Frauen“ wieder. Ich hatte den Halt verloren und vergaß darauf, das Leben zu erobern.
Den letzten Albtraum, in welchem ich Angst in meiner Wohnung hatte, träumte ich vor etwa zwei Monaten. In all den Jahren der Unbeschwertheit war mir Sicherheit im Leben nie wichtig gewesen. Heute klammere ich mich an jeden Ast im Wind, der sich nach Sicherheit anfühlt. Ich wäge Entscheidungen lange ab, prüfe alle Eventualitäten. Wo ich früher einfach jeder Herausforderung entgegen trat, ohne viel nachzudenken. Doch am Meisten vermisse ich das Gefühl, mich fallen lassen zu können. Ich vermisse die Leichtigkeit, die ich so sehr liebte.
Gleichzeitig weiß ich tief in mir, dass nichts jemals verloren ist. Das Leben erobere ich Stück für Stück wieder, jetzt auf eine andere Art und Weise. Ich umgebe mich bewusst mit Menschen, die mich stärken und ermutigen. Ich lerne zu vertrauen. Versuche, mit Triggern an alte Erinnerungen umzugehen. Gebe mein Bestes, um Wut und Enttäuschung mir selbst gegenüber in schöpferische Kraft umzuwandeln. Wunden heilen. Tabuthemen dürfen Abschied nehmen.